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Fensterblick KSL.Köln
„Selbstbestimmt Leben – klar, wer will das nicht? Für viele Menschen ist das aber gar nicht so einfach. Da gibt es Hürden, die es im Alltag schwierig machen oder negative Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Und auch, wenn manche Hürden nur in der Vorstellung existieren oder manche negative Erfahrungen leicht durch positive ersetzt werden können, müssen diese Hürden erst einmal von jedem selbst überwunden werden."
von Ellen Marquardt / Kommentar / KSL hinterfragt
Selbstbestimmung ist ein wichtiger Bestandteil der Abnabelung vom Elternhaus, des sich Loslösens von anderen und der Verwirklichung eigener Wünsche und Ziele. Die eigenen Bedürfnisse kennenzulernen, zu erfahren und klar zu haben ist dabei ein wichtiger, aber leider oft fehlender Prozess.
Wo soll es hingehen das eigene Leben? Was will ich für mich selbst erreichen? Was ist mir wichtig; was möchte ich und was nicht? Und: Was brauche ich? Wobei brauche ich Unterstützung und wer gibt mir diese?
Manche Antworten auf Entscheidungen lassen sich einfacher in der praktischen Umsetzung als nur in der Theorie finden. Ob das Ergebnis einer Entscheidung für einen zufriedenstellend ist, erschließt sich einem erst im Ausprobieren und Weitermachen oder Verwerfen der getroffenen Entscheidung. Oft wird dabei die Erkenntnis sein, dass sehr viele getroffene Entscheidungen auch wieder geändert werden können. Um das Ergebnis einer Entscheidung ändern oder überhaupt erst tatsächliche Entscheidungen fällen zu können, müssen tatsächliche Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Und es braucht das Bewusstsein darüber, dass es diese Wahlmöglichkeiten gibt.
Bei der Entscheidung zwischen: „Esse ich einen Apfel oder doch lieber eine Birne?”, sind die eigenen Vor- und Nachteile und Risiken schnell überschaubar und gegeneinander abgewogen. Aber, entscheide ich mich für den Apfel, nehme einen ersten Bissen und merke dann, dass der Apfel im Inneren schlecht ist, muss ich den Apfel nicht weiteressen. Ich kann mich immer noch umentscheiden, den Apfel wegtun und die Birne essen. Meine getroffene Wahl ist schnell abänderbar. Das gilt jedoch nicht für alle getroffenen Entscheidungen.
Bei vielen Entscheidungen gehe ich Verpflichtungen ein oder lege mich mit dieser für eine gewisse Weile fest. Eventuell beeinflusse ich mit meiner Wahl auch das Handeln und die Entscheidungen anderer. Ich muss genau abwägen, wie mein Weg und mein eigenes Handeln zukünftig aussehen sollen, damit ich für mich eine passende Entscheidung treffe. Diese muss sich für mich gut anfühlen und ich muss mich darauf einlassen können, darf andere durch meine Wahl aber nicht verletzen.
Nicht leicht veränderbare Entscheidungen, die für jeden einschneidend und herausfordernd sind, könnten sein:
- Wie möchte ich leben?
- Wo und wie möchte ich wohnen?
- Welcher Beschäftigung oder Arbeit möchte ich nachgehen?
Diese Beispiele beschreiben für viele Menschen einen – teils mehrfach – zu durchlaufenden Prozess innerhalb ihrer Lebensabschnitte und vor allem in deren Übergängen und beeinflussen außerdem weitere wichtige persönliche Lebensbereiche. Für behinderte Menschen können diese Entscheidungen schwieriger als für Menschen ohne Behinderung zu treffen sein, wenn sie auf die Unterstützung anderer angewiesen sind und dadurch für sie noch viel mehr von diesen Entscheidungen abhängt.
Wie ist der eigene Ermessensspielraum erkennbar und bemessen? – Wechselwirkungen und Passung zwischen mir und meiner Umwelt
Art. 19 UN-BRK ist eine Gesetzesnorm, die für Menschen mit Behinderungen bei diesen Entscheidungen Weichen stellt und Sicherheit gibt, diese Entscheidungen treffen zu können. Der Artikel beinhaltet drei wesentliche „Stellschrauben“ im Prozess der Erlangung von Chancengleichheit für behinderte Menschen. Zunächst findet die Anerkennung von Wahlmöglichkeiten für behinderte Menschen statt. Bestärkt wird als Zweites, dass ihnen das gleiche Recht wie allen anderen zusteht und sie die gleichen Chancen haben sollen, diese Wahl in Bezug auf ihr Leben in der Gemeinschaft auszuüben. Damit das gelingen kann, wird als Drittes die Gemeinschaft dazu verpflichtet, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, vgl. Art 19 UN-BRK.
Nachfolgend sind in dem Artikel explizit verschiedene Gewährleistungen benannt. Insbesondere werden Gewährleistungen in Bezug auf den Aufenthalts- sowie Wohnort und die Art und Form von Unterstützungsleistungen ausgesprochen. Besonders namentlich erwähnt wird hierbei die Persönliche Assistenz. Des Weiteren soll gewährleistet sein, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zu Orten, Einrichtungen und Diensten der Allgemeinheit haben, damit sie gleichberechtigt teilhaben können. Dieser Zusatz zielt nicht nur auf die bauliche Barrierefreiheit. Damit Chancengleichheit entstehen kann, bedarf es zudem der anderen Seite der Medaille, der Haltung. Für eine vollumfängliche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft entsprechen die oben benannten gestellten Weichen der Barrierefreiheit und die Sicherheit der Haltung, der behinderte Menschen begegnen.
Die vollumfängliche Teilhabe, also bestehende Chancengleichheit, eine nicht diskriminierende Haltung und Behandlung und die Anerkennung des Rechts auf ihr „so Sein“, ermöglicht erst tatsächliche Wahlfreiheit für behinderte Menschen. Dies als Ziel kommt jedem Schritt in diese Richtung eine bedeutsame Schwere zu, aber auch Gewissheit, Orientierung und damit Erleichterung, dass sich etwas bewegt und Veränderung findet. In Rückkoppelung, Verstehen und Erkenntnis dieses Schrittes und der Wirkung, die es erzeugt, ist von zentraler Wichtigkeit, dass (behinderte) Menschen Entscheidungsspielräume (er-)kennen und diese ebenso nutzen. Wahlfreiheit und Entscheidungsspielräume sind zentraler Teil zur Ausübung ihrer Selbstbestimmung.
Wie selbstbestimmt ist meine Selbstbestimmung? - Was ich möchte und was nicht!
Ebenso wichtig für die Selbstbestimmung ist es, die eigenen Grenzen zu kennen. D.h., nicht nur, was kann ich und was nicht, sondern vielmehr, was möchte ich und was nicht!
Das Wort Entscheidungsspielraum sagt es schon. Es ist ein Spielraum. Dieser hat einen persönlichen Anfangs- und Endpunkt, manchmal geht es vorwärts, manchmal zurück und manchmal werden dabei auch Zwischenschritte übersprungen. Alles passiert aber innerhalb des eigens gesteckten Bewertungsraumes. Bewirkt eine Handlung, ein Wort oder eine sonstige Aktion anderer, dass etwas über diesen Raum hinausgeht, ist dies zunächst eine Grenzüberschreitung durch andere. Ob diese Grenzüberschreitung gleichzeitig eine Verletzung darstellt, hängt von der Sache ab und bedarf einer allgemeinen und einer individuellen Beurteilung.
Mit der individuellen, sagen wir, subjektiven Beurteilung verhält es sich wie bei den Wahlmöglichkeiten als Ausdruck der Selbstbestimmung. Damit Grenzüberschreitungen als solche erkannt werden, muss ein Bewusstsein über diese Grenzen vorhanden sein. Bewusstsein über die eigenen und allgemeinen Grenzen zu haben ist viel mehr als „Ja, das möchte ich.” und „Nein, das möchte ich nicht.” zu sagen. Der Raum zwischen „Ja” und „Nein” ist ein abgesteckter Bereich, der Kenntnis und Sicherheit beinhaltet, ohne dass eingehende Reize in jedem Moment aufs Neue geprüft werden müssen. Dieses Feld dazwischen hat sich für einen selbst bewährt oder wird durch einen selbst den Umständen entsprechend angepasst. Die Grenzen bewusst setzen, einhalten oder verändern ist Teil aktiver Selbstbestimmungsausübung.
Damit ich diese Entscheidungsmacht selbst tatsächlich innehabe, braucht es dazu Freiheiten im Sinne von tatsächlichen Wahlmöglichkeiten. Diese beinhalten auch die Reflexion, dass das eigene Empfinden und Bewerten sein Recht hat, dass es Berechtigung hat so zu sein, auch wenn es andere eben anders sehen und bewerten.
In bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen ist es genauso möglich, diese Entscheidungsgewalt innezuhaben. Art. 19 UN-BRK benennt die Persönliche Assistenz. Persönliche Assistenz ist nur eine Option einer Reihe bestehender Unterstützungsformen. Sie ist von behinderten Menschen selbst aus dem Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung entstanden und ein großer Meilenstein in der Geschichte des Ringens um Unabhängigkeit und Chancengleichheit für behinderte Menschen. Vor allem aber bedeutet sie für die behinderten Menschen eine Abkehr vom staatlichen „Behinderungsmanagement“. Die Idee dazu ist aus ihren eigenen Reihen entstanden und sie ermächtigen sich damit selbst, die für sie elementaren Entscheidungen zu treffen, ihren Lebensweg selbst in die Hand zu nehmen und nach Weiterem zu streben.
Der Grundgedanke von Persönlicher Assistenz ist es, von Laienkräften die Unterstützung zu erhalten, die die behinderungsbedingte Beeinträchtigung ausgleicht. Damit ist vor allem der Ersatz von Armen und Beinen gemeint. Denn die Entscheidungen werden vom „Kopf“ getroffen, dem Menschen mit der Behinderung. Es existieren vielfältige Arten und Weisen wie Persönliche Assistenz Einsatz in der Unterstützung finden kann, damit Abhängigkeiten durch sie ausgeglichen werden können und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und manchmal überhaut „Leben“ erst möglich wird.
Ideen und ihre Wirksamkeit – abschließende Gedanken
Behinderte Menschen stehen immer im Verhältnis ihrer Abhängigkeit von ihrem Unterstützungsbedarf. Solange der behinderte Mensch aber selbst die Entscheidungsmacht hat, obliegt es alleine ihm diese zu definieren und seine subjektiven Grenzen zu setzen. Allein der behinderte Mensch selbst bewertet, was er möchte und was nicht.
Selbstbestimmt Leben – das ist das Wechselspiel zwischen den eigenen Konstruktionen im Inneren und dem unbekannten Außen, das sich jede*r in seiner Weise verfügbar machen muss, um das eigene selbstbestimmte Leben zu definieren, ihm Kontur und Fülle zu geben. Dieser Lernprozess braucht nicht nur Ideen, sondern auch realistische Chancen, um verwirklicht werden zu können und Wirkung zu entfalten. Die Basis dafür ist gegeben, gesetzlich und bereits auch in vielen Köpfen. Leider ist der gesellschaftliche Prozess „zäh wie Gummi“, geht nur in kleinsten Schritten voran. Jetzt braucht es die Motivation, den Mut und die Entschlossenheit Vieler, das Gerüst weiter zu stärken, damit es Stabilität und Volumen bekommt und für alle unübersehbar wird. Es ist Zeit, Ideen in die Tat umzusetzen.
Zur Blog-Autorin Ellen Marquardt
Ellen Marquardt ist Projektmitarbeiterin im KSL.Köln. In ihrem Fokus stehen die Lotsen und Lotsinnen für Menschen mit Behinderungen im Rheinland und die Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB). Die Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben in Nordrhein-Westfalen haben die Aufgabe diese Lots*innen und Ehrenamtler*innen zu schulen und zu unterstützen.
Zur Persönlichen Assistenz
Die KSL.NRW werden im ersten Halbjahr 2024 eine Kampagne über Persönliche Assistenz als Jobchance veröffentlichen.
Februar 2024