Bereits im letzten Newsletter haben wir ein Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 09.02.2023 behandelt (Aktenzeichen S 6 SO 126/21). Damals ging es um die vom Träger der Eingliederungshilfe vorgenommene Aufrechnung mit laufenden Leistungen. Diese Aufrechnung hat das Gericht für nicht zulässig erklärt.
von Manuel Salomon
Die Entscheidung
Es lag dem ein Persönliches Budget zugrunde, was nach Auffassung des beklagten Kostenträgers teilweise zweckwidrig verwendet worden war.
Der Kläger hatte laufend Leistungen in Form eines Persönlichen Budgets bezogen, um seine 24-Stunden-Assistenz zu finanzieren – zuletzt aufgrund einer vorläufigen Bewilligung nach § 42 SGB I. Der Kläger finanzierte aus dem Persönlichen Budget Leistungen eines Assistenzdienstes. Im März 2021 hatte der Kläger Budgetleistungen auch für einen Zeitraum vereinnahmt, während dem er sich in stationärer Krankenhausbehandlung befunden hatte.
Das Sozialgericht Augsburg hat entschieden: Der Kläger hat keinen Anspruch auf ein Persönliches Budget für Zeiten seines stationären Krankenhausaufenthaltes im März 2021. Entsprechend seien die für diesen Zeitraum bezogenen Leistungen im Ergebnis zu erstatten, wenn auch nicht durch die vorgenommene Aufrechnung.
Denn es bestünden für diese Zeit keine budgetfähigen Ansprüche, weder auf Eingliederungshilfe noch auf Hilfe zur Pflege.
Sämtliche Pflegeleistungen seien stattdessen durch das Krankenhaus zu erbringen und mit der Vergütung der Krankenhausbehandlung abgegolten (§ 39 SGB V). Der Träger der Eingliederungshilfe sei nicht verantwortlich, den Pflegenotstand des Krankenhauses auszugleichen. Auf die spezielle Regelung zum sogenannten Arbeitgebermodell könne der Kläger sich nicht berufen. Dort beschäftigte Kräfte seien deswegen weiterhin zu finanzieren, weil durch den Menschen mit Behinderungen Arbeitgeberpflichten zu erfüllen seien. Die Pflegeleistungen seien auch dann durch das Krankenhaus zu erbringen und auch im Arbeitgebermodell kein Grund, selbst beschäftigte Assistenzkräfte durchgängig zu finanzieren.
Eingliederungshilfeleistungen in Form von Leistungen der Sozialen Teilhabe seien während des Krankenhausaufenthaltes ebenfalls nicht zu beanspruchen.
Eine Krankenhausbehandlung diene gerade nicht der Sozialen Teilhabe, sondern der Behandlung einer Krankheit.
Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 113 Abs. 6 SGB IX. der mit Wirkung ab November 2022 neu eingeführt worden ist.
Nach dieser Vorschrift könnten zwar grundsätzlich Leistungen der Sozialen Teilhabe als nicht medizinische Leistungen auch im Krankenhaus zu erbringen sein. Allerdings müssten diese Leistungen der Sozialen Teilhabe entweder die Verständigung im Krankenhaus sicherstellen oder Unterstützung im Umgang mit der besonderen, behinderungsbedingten Belastungssituation im Krankenhaus bieten. Beides treffe auf die Situation des Klägers nicht zu.
Es dürfe nicht „der Sozialhilfeträger entgegen der der klaren gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen und ohne jegliche Rechtsgrundlage verpflichtet [werden], als Ausfallbürge für vermeintliche oder tatsächliche Pflegenotstände anstelle der hierzu verpflichteten gesetzlichen Krankenkasse einzutreten.“.
Kommentar des KSL Arnsberg
Der Pflegenotstand darf nicht dazu führen, dass Patienten im Krankenhaus unzureichend gepflegt werden und somit praktisch den Pflegenotstand kompensieren! Das Gericht führt im Urteil aus, der Kläger habe weder Pflegeleistungen noch ärztliche Leistungen erhalten. Dies wird als ergänzendes Argument gesehen, weshalb der Träger der Sozialhilfe nicht als Ausfallbürge herhalten müsse.
Interessanterweise lautet die Formulierung nicht, es habe kein Pflegebedarf bestanden. Es wird lediglich festgestellt, dass tatsächlich keine Leistungen erbracht worden seien. Genau darin zeigt sich das Problem. Es sind bedarfsdeckende Pflegeleistungen zu erbringen, die aber durch das Pflegepersonal im Krankenhaus oft nicht erbracht werden (können).
Tatsächlich sieht § 63b Abs. 4 SGB XII Leistungen der Hilfe zur Pflege während eines Krankenhausaufenthaltes (nur) vor, soweit besondere Pflegekräfte im Arbeitgebermodell beschäftigt werden.
Diese Einschränkung wird unter anderem mit den Arbeitgeberpflichten im Arbeitgebermodell begründet Außerdem soll das funktionierende System von Assistenzkräften so auch für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt gesichert werden. Während des Krankenhausaufenthaltes ist die Pflege Aufgabe der dort beschäftigten Pflegekräfte. Die Krankenkasse zahlt auch dies im Rahmen der Krankenhausbehandlung.
Dieses Konzept geht ersichtlich davon aus, dass die Pflege im Krankenhaus durch die dort vorhandenen Strukturen gesichert ist und tatsächlich erbracht wird – auch für Menschen mit Behinderungen. So stellt §63b Abs. 4 SGB XII am Ende klar: „Leistungen nach §39 SGB V [Leistungen der Krankenhausbehandlung] bleiben unberührt.“.
Praktisch werden im Krankenhaus bedarfsdeckende Pflegeleistungen für Menschen mit Behinderungen nicht immer erbracht. Inzwischen ist rechtlich anerkannt, dass es im Krankenhaus behinderungsbedingte Pflegebedarfe geben kann, die im üblichen Krankenhausalltag nicht zu decken sind (vgl. z.B. die Gesetzesbegründung zu §63 b Abs. 4 SGB XII sowie das Urteil des BSG vom 10.11.2022, B 3 KR 15/20 R, beide betreffen allerdings Arbeitgebermodelle).
Somit liegt es nahe, (weitere) Pflegeleistungen eben doch vom Sozialhilfeträger als „Ausfallbürge“ in Form der Hilfe zur Pflege (vor-)finanzieren zu lassen. Dieses Konzept des Ausfallbürgen entspricht der gesetzlichen Systematik und genügt u.E. dem Vorbehalt des Gesetzes. Dieser schreibt vor, dass Sozialleistungen nur auf gesetzlicher Grundlage erbracht werden dürfen (vgl. § 31 SGB I). Ob sich diese gesetzliche Grundlage z.B. aus einer Auslegung des §63b SGB XII, aus §39 SGB V oder (ggf. ergänzend) aus dem Gedanken eines Systemversagens ergibt, wäre zu diskutieren, spielt aus Sicht des Menschen mit Behinderung aber keine entscheidende Rolle.
Der Gedanke des „Ausfallbürgen“ ist im Sozialrecht angelegt. Andere Leistungen, wie z.B. Leistungen anderer Sozialleistungsträger sind nämlich nur dann vorrangig vor Leistungen der Sozialhilfe, wenn diese anderen Leistungen tatsächlich erbracht werden und den Bedarf decken (so für Schulassistenz im Schuljahr 2014/2015 BSG, Urteil vom 18.07.2019, B 8 SO 2/18 R, Randnummer. 21; für Grundsicherung BSG, Urteil vom 23.03.2021, B 8 SO 2/20 R, Randnummer. 13).
Eine Folgefrage ist, ob diese Pflegeleistungen möglicherweise von Eingliederungshilfeleistungen umfasst werden (§103 Abs. 2 SGB IX). Dann wären sie vom Träger der Eingliederungshilfe zu erbringen, der ggf. nach Landesrecht Kosten erstattet bekäme.
Die Reichweite des § 113 Abs. 6 SGB IX und der zugehörigen Verordnung wären ein eigenes Thema für einen Beitrag.
Aber selbst wenn in der konkreten Situation deren Voraussetzungen nicht vorgelegen haben sollten: Auch während eines Krankenhausaufenthalt bestehen Bedürfnisse, die außerhalb des Krankenhauses zu Bedarf an Leistungen der Eingliederungshilfe führen. Das gilt umso mehr bei einem Menschen, der außerhalb des Krankenhauses einen (unstreitigen!) 24-Stunden-Assistenzbedarf hat. Und sei es nur die vom Kläger vorgebrachte Kommunikation mit der Außenwelt mit technischen Mitteln.