Auswahlverfahren bei Intensivbehandlungen in Krankenhäusern (Triage) – Was sagen die Expert*innen dazu?
Die vergangenen Monate haben gezeigt, wie wichtig menschenrechtliche, ethische und rechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Bereitstellung entsprechender Ressourcen werden können. Über die Kriterien, die bei einer ‚Triage‘ genutzt werden, wurde und wird intensiv diskutiert. Die KSL möchten einen konstruktiven Beitrag zu dieser Diskussion leisten. Wir erhoffen uns einen offenen und wirksamen Diskurs, der uns diesem Thema näherbringt und die Tragweite der UN-Behindertenrechtskonvention hierzu vor Augen führt. Daher führen wir Interviews mit verschiedenen Akteuren zum Thema ‚Triage‘, die wir hier veröffentlichen.
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Interview mit Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, zum Thema Triage
Das Interview wurde am 27. August 2020 durch Iris Colsman (Leiterin des KSL Düsseldorf) geführt und am 10. November 2020 überarbeitet.
Einführung:
Im Herbst 2020 ist das Thema der Triage – nach einer Pause in den Sommermonaten - plötzlich wieder hoch aktuell und sehr brisant, haben doch unsere Nachbarländer Frankreich und Belgien schon wieder voll belegte Intensivstationen. Auch hier in Deutschland steigt die Zahl der Intensivpatient*innen ständig.
Dies ist vor allem für Ärzt*innen und Pflegepersonal eine erneute hohe Herausforderung. Ein konstruktiver Diskurs in der Bevölkerung wird sie und muss sie stützen.
Gleichzeitig machen wir aus den KSL mit unseren Interviews darauf aufmerksam, dass Menschen mit Behinderungen besondere Aufmerksamkeit in diesem Kontext fordern.
In Deutschland ist die „Gebrechlichkeitsskala“, die im Bereich der Intensivmedizin als Richtlinie diskutiert wird, für die behinderten Menschen inakzeptabel, da hier nicht zwischen Behinderung und Erkrankung unterschieden wird.
Um einen Eindruck von den Positionen aus vielen gesellschaftlichen Bereichen zu bekommen, haben wir auch den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Herrn Manfred Rekowski, zu diesem Thema befragt.
Interview:
KSL: Lieber Herr Rekowski, wir freuen uns, dass Sie sich bereit erklärt haben, den Diskurs zum Thema Triage mit Ihrer theologischen Perspektive als Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland zu bereichern.
Wann sind Sie zum ersten Mal mit dem Thema Triage allgemein in Berührung gekommen?
Vor Corona war diese Frage eher eine, mit der ich mich auf einem recht hohen Abstraktionsniveau auseinandergesetzt habe. Durch die Pandemie und vor allem die Nachrichten in April und Mai aus Italien und anderen Ländern ist uns diese Frage dann doch viel näher gerückt. Dabei wurde mir deutlich, dass es ein für die gesamte Gesellschaft wesentliches Thema ist, aber dass dieses Thema für die betroffenen Mediziner, die Angehörigen von kranken Menschen und auch Menschen der Risikogruppen, die mit dem Thema in ihrem Alltag zu tun haben, noch bedeutsamer ist.
KSL: Begegnet dieses Thema denn einem Seelsorger auch außerhalb des Pandemiegeschehens?
Ja, auf einer anderen Ebene wohl. Zum Beispiel das Thema, sich nicht ausreichend versorgt zu fühlen im Vergleich zu anderen Menschen, kann einem schon begegnen: Ein Patient mit einer chronischen Erkrankung schilderte mir, er habe (weil er in einer privaten Versicherung versichert war) plötzlich ein teures, sehr wirkungsstarkes Medikament nicht mehr ohne Zuzahlung bekommen. Diese konnte er sich jedoch nicht leisten. Er war also benachteiligt gegenüber einem anderen Patienten, der sich diese Zuzahlung durchaus leisten könnte. Das hat mich nachdenklich gemacht und ich habe mich gefragt: Was geht denn da ab?
Denn dann wurde noch gesagt: Ja, der ist ja auch schon 80 Jahre alt. Also kann Alter ein Kriterium sein, und ich habe mich gefragt: Wird das angewendet? Das ist doch ethisch nicht in Ordnung.
Natürlich ist das nicht so dramatisch wie ein Auswahlverfahren im Angesicht des Todes, aber es macht doch etwas deutlich.
KSL: Nun, Sie haben bei diesem Beispiel zwei Fragen berührt: Die der Auswahl, aber auch die Frage von Armut.
Was für eine Rolle spielt der soziale Status bei dieser Frage der Triage?
Bei uns in Deutschland sind die Verhältnisse, wenn man global schaut, ja noch relativ stabil. Schaut man in andere Länder, wird deutlich, dass diese Frage global eine große Wirkung entfaltet: Armut führt immer zu Benachteiligung.
KSL: Die Zuspitzung Ihres Beispiels auf die Frage des Alters einer/s Patient*in führt uns zu einem Thema, das eng mit dem der Triage verbunden ist: die Gebrechlichkeitsscala. Sie nutzt Begriffe, die Zustände von Menschen beschreiben, die sie durch Alter oder Krankheit erreicht haben – Menschen mit Behinderung können die gleichen Merkmale haben, aber dabei ganz gesund sein.
Wie beurteilen Sie das?
Also, das ist ja schon eine deutliche Engführung, und ich würde hier gerne nochmal auf die grundsätzliche Frage zurückkommen: Wie ich das Ganze als Theologe sehe.
In unserer Terminologie sprechen wir von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Sie ist jedem Menschen zu eigen. Sie gilt unterschiedslos. Sie ist unabhängig davon, was ein Mensch leistet, in welchem Zustand der Mensch ist, welches Handicap vorliegt oder, oder…
Wenn wir Kategorien einbauen, wird es immer schwierig, schräg und kann gefährlich für die Gesellschaft werden.
Die unterschiedslose Menschenwürde ist unaufgebbar.Das bedeutet, dass Situationen, in denen solche Fragen auftauchen, möglichst vermieden werden sollten. Das kann man nicht immer, aber es sollte ein Ziel sein. Und so möchte ich an dieser Stelle schon einmal ausdrücklich sagen, dass die Maßnahmen im Frühjahr sich gelohnt haben.
Wenn Corona-Kritiker sagen, die Maßnahmen seien übertrieben, dann sage ich, diese Kraftanstrengung haben wir genau dafür gemacht: Wenn wir nur erreicht haben, dass dadurch Triage-ähnliche Situationen vermieden werden konnten, dann ist das gut. Dieses „Daumen hoch, Daumen runter“ in Krankenhäusern wollten wir vermeiden, und dafür unterstützt unsere Kirche auch die Maßnahmen. Dafür waren sie in unseren Augen der richtige Weg.
KSL: Das ist ein deutliches Statement. Nun haben die Menschen mit Behinderung innerhalb unterschiedlichster Zusammenschlüsse deutlich gemacht, dass sie sich eigentlich eine rechtlich sichere Lösung für die Frage wünschen, weil das Sicherheit geben würde.
Eine Klärung also, wie der Begriff der Behinderung von dem der Gebrechlichkeit sauber abgegrenzt werden kann und dies dann auch Anwendung findet.
Ich bin ja kein Jurist, aber ich möchte folgendes dazu sagen: Ich bin der Meinung, dass es auf dieser Ebene eher nicht zu einer „Verrechtlichung“ kommen sollte. Natürlich darf man solche Entscheidungen nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen, aber ich denke, dass Gesetze letztlich dieses Problem nicht lösen werden.
Nach meinem Verständnis haben bereits heute die Ethikkommissionen in den Krankenhäusern eine wichtige Funktion. Hier werden die konkreten Situationen besprochen und bewertet.
Ich kann verstehen, dass die Menschen mit Behinderung möglichst große Sicherheit haben wollen, aber wirklich wirksam wird nur sein, an unserem gemeinsamen gesellschaftlichen Wertesystem zu arbeiten: Wissen zu schärfen, wie wir es immer nennen und Menschen zu sensibilisieren.
Es geht uns als Kirche, um die von der Liebe geleitete Vernunft, die unsere Entscheidungen bestimmen muss. Das ist aber keine Patentlösung auf diese Frage, ich glaube, die gibt es nicht.
KSL: Die Haltung der Kirche deckt sich ja im Grunde mit den Forderungen der allgemeinen Menschenrechte.
Die Haltungsfrage und der Umgang mit den grundlegenden Fragen ist das eine – die konkrete Situation aber immer wieder anders.Was denken Sie, was Ärzt*innen und Pflegende brauchen, um gute Entscheidungen treffen zu können?
Jede dieser Situationen ist eine große Herausforderung! Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat in einem ganz anderen Zusammenhang (es ging um Gewaltanwendung und Widerstand) von der Bereitschaft zur Schuldübernahme gesprochen. Das ist natürlich eine theologische Sprache.
Aber ich glaube, es gibt in diesem Bereich, über den wir jetzt sprechen, immer wieder Situationen, aus denen ein Arzt hinausgeht und spürt, er wird dem Patienten nicht gerecht. Und es gibt Situationen, da kann man nur etwas falsch machen. Da gibt es nur Entscheidungen, die alle furchtbar sind.
Und dann zu sagen: Ja, das gibt es eben im Leben, darum kommen wir nicht herum. Da geht es dann darum, Verantwortung zu übernehmen. Sehr wohl im Wissen darüber, dass es Konstellationen gibt, in denen man Menschen nicht gerecht wird – nicht gerecht werden kann.
KSL: Beim Thema Triage sind Menschen mit Behinderung auch deshalb sehr sensibilisiert, weil sie hier in Deutschland wissen, dass es schon einmal eine Zeit gab, in der Menschen aufgrund von Skalen ausgemustert wurden – um es ganz krass zu sagen. Das ist tief im kollektiven Bewusstsein eingegraben und spielt bei diesem Thema jetzt sicher eine große Rolle. Es ist schon interessant, dass Sie gerade Bonhoeffer zitiert haben, der ja auch damals unter dem Naziregime gelitten hat.
Also ja, in dem Moment, in dem wir von der Ebenbildlichkeit Gottes abrücken und zu sortieren beginnen in „Die“ oder „Wir“, sind wir auch schnell beim – um Ihre Worte zu benutzen – Aussortieren. Und dann in einer Spirale der Unmenschlichkeit: Das sind fatale Entwicklungen.
KSL: Nun entfernen wir uns ein wenig vom eigentlichen Thema, aber es spielt schon eine große Rolle, dass wir zunehmend in der Gesellschaft in Blasen leben, die kaum noch etwas miteinander zu tun haben. Auf der einen Seite wollen wir eine vielfältige und inklusive Gesellschaft, auf der anderen Seite grenzen wir uns ständig gegeneinander ab.
Ja.
KSL: Und aus diesem Erleben heraus entsteht die Angst, aussortiert zu werden?
Das Wort Inklusion hat ja insgesamt Hochkonjunktur, aber wenn ich mir manche Konstellationen angucke, würde ich sagen die praktizierte Exklusion ist - sozusagen eigentlich eine Massenbewegung. Und das erleben die Menschen natürlich – das führt zu dem Erlebnis „ich gehöre nicht dazu“. Das gilt für Menschen mit Behinderung, für Geflüchtete, für Menschen in Armut und viele andere, die sich abgehängt fühlen.
Sie erleben – um wieder einen theologischen Terminus zu verwenden – eine fortgesetzte Gnadenlosigkeit.
Und da ist die Frage, wie wir diese den Menschen nehmen, wie wir ihr Gefühl stärken, so gemeint zu sein, wie sie sind.
Wir denken immer wieder über die Inklusionsstrategien der Kirche nach. Man kann ja bei dieser Frage eigentlich nie einfach ein Häkchen dran machen: Sie ist eine dauerhaft noch nicht erledigte Aufgabe. Sie ist so etwas wie ein Dauerauftrag.
KSL: Zum Abschluss möchte ich fragen, ob Sie noch einmal etwas zusammenfassen wollen, was Ihnen zum Thema Triage besonders wichtig ist?
Also, ich würde gerne nochmal wiederholen, was ich zur Unteilbarkeit von der Menschenwürde und von der unterschiedslosen Ebenbildlichkeit Gottes gesagt habe. Das ist für mich persönlich und für unsere Kirche das Koordinatensystem bei diesen ethischen Fragen und auch der Anspruch an unser eigenes Tun. Daran gilt es immer wieder zu erinnern und es zu betonen.
KSL: Herr Rekowski, ich danke Ihnen für das Gespräch!
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Interview mit Dr. Jörg Stockmann
(Chefarzt der Klinik für Inklusive Medizin im Evangelischen Krankenhaus Hagen-Haspe)
im Juli 2020KSL: Lieber Herr Stockmann, wir freuen uns, dass Sie sich bereit erklärt haben, den Diskurs der KSL zum Thema Triage mit Ihrer Expertise als Chefarzt der Klinik für Inklusive Medizin und als Ethikexperte zu bereichern.
Sind Sie in Ihrem Berufsleben schon mit einer solchen Situation – dass die medizinische Ausstattung nicht ausreicht und Sie deshalb entscheiden müssen, wem sie zukommt – konfrontiert gewesen und wenn ja, wie haben Sie das gemacht und was hat es mit Ihnen gemacht?
Fast jede Ärztin, jeder Arzt erlebt schon früh in der Ausbildung zum Facharzt, dass nicht immer alles getan werden kann, was eigentlich möglich ist. Oft habe ich mich verpflichtet gefühlt, mehr zu tun, weil die Möglichkeiten für eine Behandlung prinzipiell zur Verfügung standen. Ein Beispiel: Im Nachtdienst kam ein 85jähriger Patient in die Notaufnahme, der berichtete zu Hause Blut erbrochen zu haben. Nun gehe es ihm aber wieder gut. Der Kreislauf war stabil, die Blutwerte unauffällig. Ich sah eine potenzielle Gefahr für diesen Patienten und hätte ihn gerne auf die Intensivstation zur Überwachung verlegt. Aber alle Plätze waren belegt mit schwer kranken Menschen. Ich habe mir gesagt: „Dem alten Herrn geht es ja jetzt gut und es besteht ja nur eine theoretische Gefahr.“ Leider war diese Einschätzung falsch. Der Patient ist in der Nacht auf einer Normalstation sehr plötzlich verstorben, ohne dass jemand vorher eine Verschlechterung wahrgenommen hat. Natürlich habe ich mich unendlich schuldig gefühlt. Das wird man nicht los, auch nach vielen Jahren nicht. Ich werfe mir vor, nicht genau genug geprüft zu haben, keine Versuche unternommen zu haben, diesen Patienten in ein anderes Krankenhaus zu verlegen.
KSL: Haben Sie sich in dieser Situation oder im Anschluss durch Ihren Berufsverband, durch die allgemeinen Regeln und durch Ihren Arbeitgeber geschützt gefühlt?
Nein, das habe ich nicht. Aber das war für mich auch kein entscheidender Punkt. Die grundsätzlichen Regeln sind zwar hilfreich, aber die individuelle Entscheidung muss jede Ärztin / jeder Arzt erstmal allein treffen. Natürlich kann man sich beraten lassen vom erfahrenen Kollegen im Hintergrunddienst. Aber auch die/der kann ja kein neues Intensivbett „zaubern“. Irgendjemand muss am Ende die Verantwortung übernehmen. Die Kriterien, wem dabei der Vorzug in der Behandlung zu geben ist, sind am Ende in vielen Fällen von sehr persönlichen Werten und Meinungen der jeweiligen Ärztin / des jeweiligen Arztes geprägt. Wer entscheidet, übernimmt Verantwortung. Aus dieser Nummer kommt man nicht raus.
Wir sind in den letzten Jahren als Gesundheitssystem und Gesellschaft besser geworden, die grundlegenden Werte, die Basis unserer Entscheidung, zu diskutieren. Aber eine systematische Überprüfung der einzelnen Entscheidungen findet natürlich nicht statt. Da könnten wir besser werden und das würde dann vielleicht dem Einzelnen auch mehr Schutz geben.
KSL: Wie stehen Sie zu den Triage - Empfehlungen der DIVI (Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin), die im April 2020 herausgebracht wurden?
Erfüllen die Empfehlungen der DIVI (Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) die Anforderungen, verbindliche Rahmenbedingungen für Triage-Entscheidungen zu formulieren?Ich denke, es war sehr hilfreich, dass sich die DIVI an diesen heiklen Punkt herangewagt hat. Anfangs haben mich die Empfehlungen durchweg überzeugt. Explizit begrüße ich die Forderung nach einem Mehr-Augen-Prinzip in der Entscheidungsfindung. Aber es gibt eben auch heikle und kritikwürdige Punkte in dem Papier. Dazu gehört im weitesten Sinn alles, was helfen soll, die Prognose von Patienten zu beurteilen. Es leuchtet zwar ein, dass man einen schwerstkranken Patienten, der unheilbar krank ist und im Sterben liegt, nicht an ein Beatmungsgerät anschließt. Aber jeder Mediziner/jede Medizinerin weiß oder sollte wissen, dass ärztliche Prognosen in sehr vielen Fällen mit größter Vorsicht zu genießen sind. Die Dinge sind selten klar.
KSL: Die DIVI hat sich bei ihren Empfehlungen, neben fünf weiteren Kriterien, an der „Gebrechlichkeitsskala“ orientiert. Diese ist ursprünglich eine Skala, die für ältere Menschen entwickelt wurde und auch nur für die Altersgruppe der über 65-Jährigen validiert ist. Wie sehen Sie die Bedeutung der Gebrechlichkeitsskala in diesem Zusammenhang?
Wir haben uns im Ethikrat unseres Krankenhauses intensiv mit den verschiedenen „Beurteilungs-Systemen“ beschäftigt, die die DIVI vorgeschlagen hat. Es gab Befürworter dieser Skalen und Scores aber auch Gegner und Skeptiker. Ich persönlich sehe die „Gebrechlichkeitsskala“ aber auch andere Scoresysteme kritisch. Es wird zwar explizit davor gewarnt, diese Skala nicht bei Menschen jünger als 65 und auch nicht bei Menschen mit sogenannter „frühkindlicher Hirnschädigung“ einzusetzen. Ich befürchte aber, dass sich in den Notaufnahmen unter hohem Zeitdruck nicht die Mühe gemacht wird, genau hinzusehen. Behinderung, Gebrechlichkeit, Alter, Demenz: Das wurde und wird häufig mit einer ungünstigen Prognose gleichgestellt. Erstens stimmt das häufig nicht, zweitens bezweifle ich, dass die Einschätzung einer schlechten Prognose ein bestimmtes Vorgehen ethisch rechtfertigt.
KSL: Zur Behandlung selbst gehört auch die Einwilligung des*der Patienten*Patientin. Eine Patientenverfügung wäre bei der Entscheidungsfindung hinsichtlich einer Behandlung sicherlich hilfreich. Wie sieht es damit in der Praxis generell aus? Wie im Kontext einer Triage?
Eine Patientenverfügung, die gut überlegt und präzise formuliert ist, finde ich sehr hilfreich. Im Alltag begegnen wir diesen Verfügungen immer häufiger. Eine solche Vorabverfügung sollte jeder Arzt/ jede Ärztin ernst nehmen und nach sorgfältiger Prüfung auch beachten. Aber es gibt auch Verfügungen, die ungenau formuliert sind. Manche scheinen auch in der falschen Vorstellung entstanden zu sein, dass Medizin mit Schläuchen und Apparaten grundsätzlich eine Quälerei ist, die man nicht zulassen sollte. Das entspricht in vielen Fällen aber nicht der Realität.
In der Triagesituation werden Ärzte/ Ärztinnen dankbar sein, wenn Patienten vorab erklärt haben, dass sie nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden wollen. Jede(r) die/der eine Patientenverfügung ausfüllt, sollte sich klar machen, dass dies eine mächtiges Instrument ist, dass danach auch gehandelt werden muss. Wer eine Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen verfügt, der wird mutmaßlich auch früher sterben.
KSL: Wie wünschen Sie sich ein Setting, das zeitnah, unkompliziert und gleichzeitig fundiert und unterstützend wirkt, wenn eine solche Entscheidung ansteht?
Die Personen, die die Entscheidungen treffen, sollten vorab bestimmt werden. Sie sollten viel Berufserfahrung haben und natürlich auf freiwilliger Basis berufen werden. Es wäre gut, wenn sich alle Berufenen vorher zu grundsätzlichen Problemen im Umgang mit Triage im Team austauschen. Jede Entscheidung sollte im Nachhinein von einem unabhängigem Ethikgremium überprüft werden, um mögliche systematische Fehler zu erkennen. Die Entscheiderinnen und Entscheider sollten Supervision und im Bedarfsfall psychologische Hilfe und Unterstützung erhalten.
KSL: Wie groß oder lang sind die Entscheidungszeiträume, die zur Verfügung stehen? Müssen die Entscheidungen immer sehr kurzfristig getroffen werden oder besteht die zeitliche Möglichkeit, noch eine Meinung einzuholen bzw. nach freien Betten in anderen Kliniken zu suchen?
Das hängt sehr davon ab, wie frühzeitig sich die Patienten um medizinische Hilfe bemühen. Es gibt sicher Situationen, in denen sofort (innerhalb von wenigen Minuten, selten Sekunden) gehandelt werden muss. In der Regel kündigt sich die Notwendigkeit zur Beatmung aber im Zeitraum von mehreren Stunden an. Kommen die Patienten frühzeitig ins Krankenhaus, ist es natürlich viel eher möglich, bei drohender Beatmung nach einem freien Platz in einer anderen Klinik zu suchen, wenn die eigene Intensivstation belegt ist.
KSL: Kann das geforderte Mehraugenprinzip von zwei Notfallmediziner*innen und einer erfahrenen Pflegefachkraft in der Praxis sichergestellt werden?
Das halte ich für durchaus machbar.
KSL: Wären Ethikkonsile ein taugliches Instrument, um Triage-Entscheidungen abzusichern und das Mehraugenprinzip umzusetzen?
Im Einzelfall sind Ethikkonsile möglich. In den meisten Krankenhäusern stehen solche Beratungsangebote aber nicht rund um die Uhr an 365 Tagen zur Verfügung. Das macht es schwierig, Ethikberatung systematisch bzw. in jedem Fall in Anspruch zu nehmen. Grundsätzlich sollten aber Ethikkonsile so häufig wie möglich in diesen Situationen in Anspruch genommen werden.
KSL: Der Leitfaden der DIVI führt Kriterien von Co-Morbiditäten mit Beeinträchtigung des Langzeitüberlebens auf, darunter auch weit fortgeschrittene, generalisierte neurologische und neuromuskuläre Erkrankungen. Welche Position vertreten Sie hierzu?
Hier geht es mir ähnlich wie bei der Gebrechlichkeitsskala. Ich befürchte, dass das Prinzip „alles in einen Topf werfen“ zum Tragen kommt. Wer alt, chronisch krank, gebrechlich und behindert ist, hat in dieser Logik „schlechte Karten“ und könnte vorschnell „aussortiert“ werden. Nur wenige Scores in sehr eng definierten Behandlungsszenarien helfen die Prognose mit relativ großer Sicherheit einzuschätzen. Ich wäre sehr zurückhaltend meine Entscheidung wesentlich mit diesen vermeintlich objektiven Instrumenten zu begründen.
Und es leuchtet mir auch nicht ein, dass ein ohnehin durch eine schwere Erkrankung „gestrafter“ Mensch, auch noch auf seine Chance zum Weiterleben für einen anderen verzichten soll, der eine ja erstmal nur theoretisch bessere Chance hat, eine Beatmung zu überleben. Das kommt mir ungerecht vor. Aber ich will auch nicht bestreiten, dass sogenannte utilitaristische Argumente im Einzelfall bestechend überzeugend wirken.
KSL: Stellen Sie sich vor, Sie stünden vor der folgenden Entscheidung:
Ein Beatmungsgerät bei zwei Patienten: Die 28jährige Mutter von zwei kleinen Kindern oder den 67jährigen alkoholkranken, obdachlosen Kettenraucher retten?
Wie würden Sie entscheiden und womit würden Sie das begründen? Welcher rechtliche Rahmen spielt für Sie eine Rolle bei diesem Thema?
Die im Grundgesetz festgeschriebene Menschenwürde und das Gleichheitsgebot verbieten dem Staat, Richtlinien festzulegen, die das Abwägen von Menschleben ermöglichen bzw. deren Wertigkeit zueinander. Was also kann Politik tun?
Haben Sie Wünsche oder Forderungen an den Gesetzgeber, die die Situation für solche Notlagen verbessern würden?
Ich glaube, dass der Gesetzgeber schon sehr viel getan hat, um einen Korridor für Entscheidungen zu schaffen. Die individuelle Abwägung und die Entscheidung im Triagefall bleiben immer extrem schwer und belastend. Es wird Fehlentscheidungen geben und Ärzte/ Ärztinnen werden wenigstens im moralischen Sinne Schuld auf sich laden. Das bringt der Beruf mit sich. Mein Wunsch wäre eine große Transparenz im Hinblick auf die Entscheidungsprinzipien. Es wäre schön, wenn wir wüssten: Wer hat warum wie entschieden? Nicht mit dem Ziel nach „Schuldigen“ zu suchen, sondern um zu wissen, wie wir als Gesellschaft in solchen Situationen handeln. Gehen wir in eine bedenkliche Richtung oder bemühen wir uns um Fairness?
KSL: Hat sich das deutsche Gesundheitssystem bewährt oder widerspricht die marktwirtschaftliche Orientierung der Daseinsfürsorge?
Im Vergleich zu den 90er Jahren sehe ich die Entwicklung des Gesundheitswesens kritisch. Ich wünsche mir an vielen Stellen mehr Zeit, mehr Fürsorge, weniger Spezialistentum. Aber das gilt nicht für alle Bereiche. Wir haben es sehr gut in Deutschland und dürfen für dieses Gesundheitssystem wirklich dankbar sein.
KSL: Welche Strategien sollte es für die Prävention und das Management einer Pandemie künftig geben?
Das sollten Sie in vielleicht zwei Jahren mal mit einer Expertenrunde aus Politikern, Virologen, Informatikern, Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen, Soziologen und Ethikern diskutieren.
KSL: Was ist Ihre wichtigste persönliche Einlassung zu diesem Thema?
Ich bin hin- und hergerissen von den sich ständig auch in mir verändernden Meinungen, Haltungen und Gefühlen im Umgang mit der Pandemie. Finde ich das Virus gefährlich oder nicht? Will ich Distanz oder Nähe zu anderen Menschen? Gibt es Wichtigeres als Gesundheit? Viele Fragen, viele Antworten und alles ist im Fluss. Es ist höchst interessant aber auch manchmal verstörend meine Umgebung und mich selbst zu beobachten. Eine neue Erfahrung, die ich nicht gesucht habe, aber mit der ich bislang klarkomme. Persönliches Glück? Zufall? Eine Chance?
KSL: Lieber Herr Dr. Stockmann, herzlichen Dank für dieses Interview.